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Harvard-Chemiker G. Whitesides über die Zukunft

July 12, 2004 by  

Das Spekulieren über die Zukunft der Wissenschaft scheint den Wissenschaftlern im Blut zu liegen,” sagt Harvard-Professor und letztjähriger Nobelpreisträger George M. Whitesides. “Wir alle tun es. Und wir glauben fest daran, dass ernsthafte Vorhersagen fast immer falsch sind.” Sind Überlegungen zur Zukunft relevant oder dienen sie nur der Zerstreuung? In der Vergangenheit mussten aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder wichtige Grundüberzeugungen der Menschheit verworfen werden – mit tiefgreifenden Folgen für die Gesellschaft. Im Nachhinein lassen sich falsche oder überkommene grundsätzlichen Annahmen natürlich leicht ausmachen. Lässt sich aber auch vorhersagen, welche heute als selbstverständlich geltenden Vorstellungen früher oder später ebenfalls fallen werden? In seinem Essay in der Angewandten Chemie diskutiert Whitesides eine Reihe gesellschaftlich akzeptierter Annahmen und das Potenzial der Naturwissenschaften – und speziell der Chemie – diese zu widerlegen.


Eine Grundüberzeugung trennt stillschweigend das Vorstellbare vom nicht Vorstellbaren,” erklärt Whitesides. “Falls eine Grundüberzeugung angreifbar ist, wird sie sehr wahrscheinlich irgendwann unter den Angriffen der Naturwisenschaften zerbrechen – zum Besseren oder zum Schlechten.” So sind wir beispielsweise davon überzeugt, dass wir sterblich sind. Viel hat die Forschung bereits erreicht im Kampf gegen todbringende Krankheiten, weitere Fortschritte sind zu erwarten, vielleicht lassen sich mit modernen Behandlungsmethoden irgendwann auch Krebs und Herzkrankheiten besiegen, biologische Uhren zurückdrehen und genetische Fehlfunktionen beheben. Das alles greift das Dogma der Sterblichkeit gar nicht an, aber bereits eine drastische Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung würde zwangsläufig unsere gesellschaftlichen Strukturen komplett umkrempeln. Weitere Fragen, auf die Whitesides eingeht, lauten zum Beispiel: Werden Computer denken und ein Bewusstsein entwickeln? Beginnt die Grenzen zwischen Lebewesen und Maschine, zwischen lebendig und tot irgendwann zu verschwimmen? Sollte ein Mensch immer und um jeden Preis am Leben erhalten werden?
Wissenschaft, die die Welt unausweichlich verändert, wirft zwangsläufig ethische Fragen auf. Technologien etwa, die das Leben deutlich verlängern, neue Formen von Leben oder “empfindende” Systeme entwickeln, werden sicher sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringen. “Diejenigen von uns, die an diesen Problemen arbeiten,” findet Whitesides, “sollten sich verpflichtet fühlen, ihren Mitmenschen vollständig und unmissverständlich zu erklären, was sie tun, warum sie es tun und – in dem geringen Ausmaß, in dem sie es können – mit welchen Folgen.”
Kontakt: Prof. G. M. Whitesides
Department of Chemistry and Chemical Biology
Harvard University

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